Der Kabelfinger

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Wir haben Kabelfernsehen! Kabelfernsehen haben wir! Meine Familie hat jetzt… . Ich kann es noch gar nicht fassen. Nachdem bei uns in der Straße fließend Wasser eingeführt und unsere Schwarz-Weiß-Ampel durch eine Farbige ersetzt worden war, machte der Fortschritt auch in unseren vier Wänden nicht halt: Wir wurden ans Kabelnetz angeschlossen! 17 Jahre der Isolation sind nun passé. Kein Freund kann nun mehr ankommen und spöttisch fragen: „Na, hast du gestern auch auf SAT.1 den tollen Spielfilm gesehen?“ Totenstille. „Oh, ich vergaß, ihr habt ja gar kein Kabel!“ Ich konnte zwar stets verkünden, stolzer Besitzer sowohl eines Kabels als auch eines Fernsehers zu sein, doch mit Kabelfernsehen konnte ich leider nicht dienen.

Das ist alles jetzt vorbei! Vorbei sind auch die Zeiten, wo ich aus Angst vor Alltagsgefahren wie Autos und Verbrechern aller Gewichtsklassen mich kaum traute, das traute Heim zu verlassen. Wozu sich jetzt noch in die unheilvolle Welt begeben? Ich kann mir die Welt doch jetzt auf 30 Kanälen direkt ins Wohnzimmer holen. Eine tägliche Weltreise per Knopfdruck – und wenn mir etwas nicht gefällt, mache ich einfach „Klick“.

Dieses so harmlose aus der Wand schauende Kabel bescherte uns so einige Lebensveränderungen. So fragte meine Schwester am Tag der Befreiung bestürzt, warum wir unseren Fernseher nicht eingeschaltet hätten. „Schließlich haben wir doch jetzt Kabelfernsehen!“ Beschämt legten wir unser gleich nach unserem Zweitauto und unserer Zweitwohnung angeschafftes Zweitbuch zur Seite und starteten das Sendersuchlaufspiel. Dabei ist dem Vater als Familienoberhaupt die Position des Programmrichters beschieden. Der Häufigkeit und Stärke, der ihm an den Kopf geschleuderten Gegenstände kann er dann entnehmen, wann es angebracht ist, das ständige Umschalten für wenige Sekunden zu unterbrechen, um die Sendung einer Qualitätskontrolle zu unterziehen. Nach objektiven Gesichtspunkten wie „Das Gesicht gefällt mir nicht“ entscheidet das Gremium, ob die Sendung würdig genug ist, um gesehen zu werden.

Bange Minuten bis zur Wiederholung

Die Zeit des Nicht-Umschaltens darf aber niemals die Fünf-Minuten-Marke überschreiten, da man sonst ständig das ungute Gefühl hat, auf anderen Kanälen etwas Gutes zu verpassen. So kommt es, daß wir keine Sendung mehr von Anfang bis Ende sehen, und wenn wir mal kurz umschalten, weil in der augenblicklichen Szene weder eine Vergewaltigung noch eine Verfolgungsjagd gezeigt wird, müssen wir später entsetzt feststellen, daß wir die Schlüsselszene verpaßt haben. Das bedeutet, bittere acht Stunden bis zur Wiederholung zu warten, um das Verpaßte nachzuholen.

Als nach dem 25. Schnelldurchlauf immer noch keine Übereinkunft über die Programmwahl erzielt werden konnte, begann ich zaghaft zu mutmaßen, daß unser Fernseher wohl eine direkte Verbindung zum Klo habe, da wir wahrlich nur Sch… sahen. Doch mein Vater wies mich barsch zurecht. „Wenn etwas auserwählt wird, um im Fernsehen gesendet zu werden, dann muß es einfach gut sein!“ Das leuchtete mir ein, und da eh gerade nur Werbung gesendet wurde, bahnte ich mir meinen Weg durch die Erdnußschalen und Chipstüten der letzten drei Wochen, um in der Küche einen kleinen Imbiß zu mir zu nehmen.

Dieses fällt mir ehrlich gesagt von Tag zu Tag schwerer. Als Anhänger der Wegenerschen Kontinentalverschiebungstheorie warte ich bereits seit Wochen vergeblich darauf, daß unser Kühlschrank an meinem Fernsehsessel vorbeikommt.

Erste Nebenwirkungen

Nach einigen Wochen, in denen wir mehrmals den Weltrekord im Dauerfernsehen einstellten, machten sich die ersten Nebenwirkungen, die keiner Gebrauchsanweisung zu entnehmen sind, bemerkbar: Früher klagte mein Daddy noch über einen schmerzhaften Tennisarm, doch jetzt hat er ganz andere Probleme, denn er mußte bestürzt feststellen, daß die Fingerkuppe seines rechten Zeigefinders fast gänzlich durch den Gebrauch der Fernbedienung abgerieben war und sein Fingergelenk plötzlich stark schmerzte. Eine neue Krankheit war geboren: Der Kabelfinger.

Noch stolz darüber, daß er so in die Medizingeschichte eingehen würde, plante er bereits das Programm für den folgenden Tag: „Tom und Jerry“ um 7.30 Uhr, dann Nachrichten um 8 Uhr und so weiter. Dann der große Schock: So lange er auch in unseren zehn Programmzeitschriften auch suchte, er konnte zwischen 12 Uhr und 12.30 Uhr keine Sendung finden, die er nicht schon mindestens zehnmal gesehen hatte! Eine Welt brach für ihn zusammen! Wir alle hoffen, daß er sich recht bald von diesem Schock erholt, damit er im nächsten Monat wieder Flüssignahrung zu sich nehmen kann.

Auch ich blieb von den Nebenwirkungen nicht verschont: Eines Morgens, als ich nicht zur Schule gehen konnte, da meine Augen zu sehr flackerten, versuchte ich vergeblich, unsere graue Katze farbig zu stellen und meine Mutter, die gerade nervig wurde, auszuschalten. Glücklicherweise gelang es mir schnell festzustellen, woran es lag. Es konnte ja auch gar nicht klappen, denn ich hatte die Fernbedienung mit einem Taschenrechner verwechselt, während mein Bruder in der Schule vergeblich versuchte, mit unserer Fernbedienung die Wurzel aus fünf zu ziehen.

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