„Gott schütze uns vor Freistunden!“

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„An die Schüler wird appelliert, die für individuelle Arbeiten notwendige Ruhe zu akzeptieren.“

So steht es jedenfalls geschrieben auf einem unscheinbaren grauen Papier, das im Aushang des Aufenthaltsraumes unserer Schule hängt. „Papier ist geduldig“, denke ich mir und lasse mich laut vernehmlich auf einen knarrenden Stuhl fallen, während meine Tasche mit einem satten Knall auf der Tischplatte landet.

„Wat los hier“, rufe ich in die weite Stille hinein, womit ich unbewußt eine Kettenreaktion ungeahnten Ausmaßes auslöse, denn plötzlich ist der ganze Raum mit wechselnd an- und abschwellenden Zischlauten erfüllt. Mit hektischen Gestiken macht man mir deutlich, daß ich mich ruhig zu verhalten habe. Man wolle arbeiten. Aber was kann man in einem Aufenthaltsraum machen, außer – wie der Name schon sagt – sich aufzuhalten und sich zu unterhalten?
Ah! Da fällt mir ein, daß ich Mutterns Schulbrot ja noch gar nicht gegessen habe. Das dürfte doch weit unterhalb der Schmerzensgrenze liegen, denke ich mir. Doch unglücklicherweise habe ich gerade heute nur Knäckebrot mit. Und da ich nur ungern mit meiner Rente spiele, stecke ich die Brottüte wieder vorsichtig in meine Tasche zurück, von zwölf skeptischen Augenpaaren aufmerksam beobachtet.

Während ich meinen Nachbarn auf Anfrage über meine Wochenendpläne aufkläre, ist ein stark erkältetes Mädchen voll damit ausgelastet, die Fenster, die in regelmäßigen Intervallen von zwei Open-Air-Fans geöffnet werden, in panikartiger Manier wieder zu schließen. Nun kommt Stimmung auf: Aus allen Ecken hagelt es Argumente zum Thema Frischluft pro und contra, wobei sich binnen Minuten zwei feindlich gesinnte Lager entwickeln.

„Stören wir Dich etwa?

Doch dann wird diese Debatte plötzlich durch einen markerschütternden Schrei unterbrochen: „Ruuuuuhe!“ Alle Augen richten sich auf ein sonst recht unscheinbares Mädchen, dessen Gesicht vor Wut besorgniserregend rot angelaufen ist. „Ruhe! Ich will arbeiten!“ „Stören wir dich etwa?“, frage ich das arme Ding, das am ganzen Körper zittert. „Das mußt du uns wirklich sagen!“ beteuert ein Zeitgenosse aus der hintersten Reihe. „Das können wir doch wirklich nicht wissen!“ „Was? Stören wir dich bei der Arbeit?“ Mein Nachbar zu meiner Linken scheint endlich aufgewacht zu sein: „Sag das doch gefälligst! Also wirklich, Utilie. Wenn wir dich stören….“

Flugs hat sich ein Halbkreis überaus hilfsbereiter Mitschüler gebildet, die sich besorgt und scheinbar interessiert danach erkundigen, was sie denn da gerade Schönes lese und ob es spannend sei und von wem es sei. Aber zu spät: Die gewissenhafte Schülerin hat das Papier bereits auf Golfballgröße zusammengeknüllt und aus dem Fenster, das zufällig gerade offen war, geworfen. Nur den Konstrukteuren der Fenster ist es zu verdanken, daß unsere Mitschülerin nicht aus demselben gesprungen ist, da die Frischluftzuführklappen nur halb zu öffnen sind.

Eine bedrückende Stille macht sich breit. Minutenlang sieht man nur verlegen in die Luft starrende Artgenossen, die bei zufälligem Blickkontakt verschreckt zusammenzucken. In diese idyllische Stille hinein schnaubt die verschnupfte Schülerin plötzlich ohrenbetäubend in ein Taschentuch, worauf sie unweigerlich zusammenfährt, da sie von einem Dutzend Augenpaare strafend durchbohrt wird, so daß ihr vor Schreck fast der Schnotten erstarrt.

Es gongt. Gleichzeitig brüllt mein Nachbar euphorisch „Pause!“, läßt alles stehen und liegen und rennt wie von Sinnen bzw. wie jeder normale Schüler in einer derartigen Situation davon und ward vorerst einmal nicht wieder gesehen. Wir gucken uns verstört an. „Pause? Der hat doch zwei Stunden lang Pause!“ Kurze Zeit später kommt er zurück und entschuldigt sein Verhalten verlegen damit, daß bei ihm so etwas wie ein vererbter Naturtrieb vorliege, der durch Ertönen des Gonges ausgelöst wurde. Vergeblich versuche ich mir vorzustellen, wie vor Tausenden von Jahren einer seiner Ur-Ur-Vorfahren wie von einer Tarantel gestochen aus einer Höhle gerannt ist, da es gegongt hat….

Langeweile macht sich wieder breit. Während mein Nachbar sich zu helfen weiß, indem er in seinem Riechkolben herumstochert und die zu Tage gebrachten Bodenschätze der Größe nach ordnet, startet mein Gegenüber ein flottes Linealsolo, untermalt mit spontanen Scratching-Einlagen auf diversen Samsonites und vereinzelten Aaah-Schreien unserer eifrigen Mitschülerin. Ich versuche, sie zu belehren, daß man dazu nicht „Aaah“ sondern „Aciiid“ ruft, doch diese Belehrung kommt mir nicht durch die Kehle, da selbige durch die Eremitin hermetisch abgeriegelt wird. Ich schwöre bei meinem Pfadfinderehrenwort, so etwas Böses nie, nie wieder zu tun und verlasse unaufhaltsam den Aufenthaltsraum. Gott schütze uns vor Freistunden!

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